«Fly Only»-Pilot

Bei der nachhaltigen Fischerei ziehen alle am gleichen Silch.

Auch bei der Saisoneröffnung am 1. Mai 2023 wird es wieder so sein: Im Fischerparadies Engadin ist der Fischbestand historisch tief. Gemeinsam wollen der Kanton, Fliegenfischer und Tourismusexperten das ändern – und entwickeln Modelle für eine neue Nachhaltigkeit in der Engadiner Fischerei.


Panta rhei, sagte der Philosoph Heraklit: Alles fliesst. Das heisst auch: Man kann nicht zweimal im selben Fluss fischen. Immer ist es anders. Vielleicht kehren Fischer gerade deshalb immer wieder an ihre liebsten Fischgründe zurück, pilgern zum Beispiel ins türkisblaue Wasser der Karibik oder an die Ströme in Alaska, Feuer-, Ir- oder Schottland.

Schweizer Angler und Anglerinnen haben es einfacher. Ihr Mekka der Fischerei liegt gleich vor der Haustür – und erst noch inmitten sublimer Berg- und Naturwelten: im Engadin. Ab dem 1. Mai 2023, wenn die Fischereisaison wieder losgeht, stehen den Petrijüngerinnen und Petrijüngern hunderte von Kilometern an Fliessgewässern offen, rund um die dreifaltige Wasserscheide beim Piz Lungin, von wo ein Regentropfen sich entweder in Rhein und Nordsee, in die Moesa und das Mittelmeer oder via Inn und Donau ins Schwarze Meer auf die Reise macht. In munteren Gletscher- und tosenden Gebirgsbächen tummeln sich Groppen und Bachforellen. Im sanft mäandernden Inn lebt die Äsche. Dutzende Berg- und Stauseen sind Heimat für Salmoniden wie den Seesaibling, die eingeführten Kanadischen Seeforellen (Namaycush) und Regenbogenforellen sowie deren Beutefisch, die kleine Elritze (aus der Familie der Karpfenartigen, der Cypriniden). In stehenden Gewässern im Tal wie dem Silsersee schliesslich schwimmen auch unterländische Arten wie Hecht und Egli, Schleie und Rot- beziehungsweise Schwarzfeder.

Der einstige Fischreichtum schrumpft

«Von dem grossen Fischreichthum aller bedeutenden Seen und sämmtlicher Flüsse» schwärmte schon Johann Andreas Sprecher in seiner Geschichte der Republik der Drei Bünde (Graubünden) im achtzehnten Jahrhundert. Kein Wunder, dass «aus dem Engadin ein nicht ganz unbedeutender Handel mit Fischen nach Italien betrieben wurde». Geräucherte Forellen dienten schon früh als Proviant für Säumer und Pilger, waren eine gefragte Ware. Laut Sprecher boten «thörichte» Silsersee-Fischer zuweilen 50 Pfund am Tag an, sodass «der Preis der Fische in Zuz und Scanfs auf 8-9 Blutzger per Pfund herabsank».

Wie der Bluzger, eine unter anderem vom Bistum Chur geprägte Billonmünze (fünf Bluzger waren ein «Batzen»), sind auch solche Fischbestände heute leider Geschichte. In den letzten 15 Jahren sind die Bestände von Bachforellen und Saiblingen teilweise regelrecht eingebrochen. Laut Fangstatistik auf der Website des Amts für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden wurden 2020 im Ober- und Unterengadin nur noch rund ein Viertel so viele Bachforellen wie 2004 gefangen. Bei Seesaiblingen ist der Trend ähnlich. Ausnahmen wie die Namaycush, die bis zu 30 Pfund schwere Kanadische Seeforelle, oder die stark geschützte Äsche bestätigen die Regel: Irgendetwas stimmt nicht mehr mit Engadiner Fischen und Fischerei.

Das liegt nicht daran, dass die Engadiner ihren Gewässern und deren Bewohnern nicht nachhaltig Sorge zu tragen versuchen. Schon Ende des 19. Jahrhunderts betrieb man gemäss der Chronik der Bündner Fischerei von 1866 bis heute nachhaltige Gewässer- und Fischbestandbewirtschaftung: Wasserkraftwerke und Industriebetriebe wurden nach Umweltsünden zu Bussen verdonnert, womit Fischleitern und -treppen gebaut wurden, die die Laichwanderung der Fische ermöglichten. Auch Besatzmassnahmen gibt es seit den 1880er Jahren: Bereits damals wurden Laichfische für die Aufzucht und zum Aussetzen von Jungfischen gefangen. Auch heute noch werden jährlich hunderttausende gezüchtete Sömmerlingen – einen Sommer alte Jungforellen – in Engadiner Gewässer entlassen.

Wie die Fische vor Klimawandel und Extremwetter schützen?

Schuld am Forellenschwund sind also nicht mangelndes Engagement, auch nicht Krankheiten wie Furunkulose, toxisches Skiwachs oder Räuber wie der heute im Engadin erfreulicherweise wieder anzutreffende Fischotter. Nein, als Hauptverdächtige gelten vielmehr gehäufte Extremwetterereignisse im Rahmen des Klimawandels.

Marcel Michel, Fischereibiologe beim Amt für Jagd und Fischerei des Kantons, verweist auf häufigere Starkregen und Murgänge. Mit dem zusätzlichen Temperaturanstieg werden Erdrutsche häufiger, da ehedem Permafrostgeschützte Hänge oberhalb der Baumgrenze im Sommer instabil werden. Murgänge aus den Seitentälern schottern Fischhabitate im Inn mit hohen Mengen an Geschiebe zu und vernichten so Unterstände der Fische. Zudem vermögen durch menschengemachte Nutzungen bestehende Restwasserstrecken und gezähmte Hochwasser das Geschiebe nicht mehr auszutragen. Der Lebensraum schrumpft, und mit ihm der Fischbestand. Das gefährdet die Engadiner Fischerei.

Natürlich schauen die Behörden nicht untätig zu. Bei S-chanf und Zernez etwa erlaubt eine bauliche Infrastruktur gezielte Ausleitungen der Wasserfassung bei Murgängen, um den Geschiebedruck zu verringern. Handkehrum können Wasserwerke bei Bedarf die Fliessmenge des Inns erhöhen, quasi um Fluss und Geschiebe zu spülen. Der Fangdruck auf die Fischpopulation wurde reduziert, die erlaubte Höchstzahl an gefangenen Fischen pro Tag beschränkt. Schliesslich schützen neben Schonzeiten sogenannte Fischfenster gewässerspezifisch den Bestand. Forellen etwa dürfen nur innerhalb eines gewissen Masses entnommen werden. Das heisst: Zu kleine Jungfische und erwachsene Laichfische müssen nach dem Fang zurückgesetzt werden – nur Portions- und alte Raubforellen wandern in die Pfanne.

«Fly Only»: Fliegenfischen als Forellenschutz der Zukunft?

Daneben suchen der Kanton und Interessengruppen im Engadin auch andere nachhaltige Lösungen – wie mit dem Pilotprojekt «Fly Only». Dieses reserviert einen rund zweieinhalb Kilometer langen Abschnitt des Inns unterhalb Ramosch exklusiv fürs Fliegenfischen. Bei dieser Fischtechnik wird eine aus Federn und Garn gebundene Kunstfliege an spezieller Schnur und Rute durch die Luft geschwungen, bis sie am gewünschten Ort aufs Wasser aufsetzt. Die Attrappen imitieren verschiedene Stadien von Wasserinsekten: Nymphen sind Fliegenlarven am Flussgrund, Nassfliegen gaukeln der Forelle eine frisch aus der Pupa geschlüpfte Fliege unter Wasser vor, eine Trockenfliege gleicht einem Insekt im Imago-Stadium, das zur Ei-Ablage auf die Wasseroberfläche aufsetzt. Wenn eine Forelle den Köder nimmt, hat der Fliegenfischer nur einen kurzen Moment, um den Haken zu setzen. Wird zu lange gewartet, entdeckt der Fisch den Betrug und spuckt die falsche Fliege wieder aus. Weil Fische dabei meist in der vorderen Maulregion gehakt werden, sinkt die Verletzungsgefahr und steigt die Überlebenschance von Fischen ausserhalb des Fangfensters. Langfristig soll das die Bestände wieder wachsen lassen.

Das 2020 eingerichtete «Fly Only»-Experiment hat seine Verfechter. Byron McGaw, der die Grundidee von «Fly Only» in seiner Masterarbeit an der Fachhochschule Chur entwickelte, sieht im Fliegenfischen ein «adäquates Verhalten des Menschen in der Natur». Es entspreche einer neuen «positiven Einstellung gegenüber Themen der Ökologie und Biodiversität», die gerade unter Fliegenfischern weitverbreitet sei.

Renato Vitalini, seit 18 Jahren passionierter Fliegenfischer und seit acht Jahren Guide für fliegenfischende Touristen rund um Scuol, konstatiert bereits eine Erholung des Fischbestands der Strecke. Aufgrund von Bestanderhebung und eigener anekdotischer Fangerfahrungen «geht es exponentiell nach oben mit den Stückzahlen» gehakter Fische. «Die Entnahmezahlen gehen runter, Mindestmasse gehen hoch – wir sind auf einem guten Weg.» Dazu gehört auch das Meditative im Naturerlebnis Fliegenfischen: «Beim Fischen tauche ich augenblicklich in eine andere Welt ein. Ich bin im Moment eins mit den Naturelementen», so Vitalini. «Dieser ‘Mindset’ ist ein magischer Mood von Sein und Freiheit, in dem ich meine Mitte finde.»

Fliegenfischerei ist indes keineswegs nur esoterischer Hipster-Trend. Vitalini, der seine Fliegen selbst bindet und in Eigenfabrikation Fliegenruten der gehobenen Klasse weltweit mit Erfolg vertreibt, sieht auch wirtschaftliche Chancen der schweizweit bislang einzigartigen «Fly Only»-Strecke. Aufgrund seiner achtjährigen Erfahrung als Guide ist Fliegenfischen für ihn eine Paradenische von nachhaltigem Tourismus. McGaw pflichtet bei: Gerade in Wintertourismusgegenden passe die sommerliche Fischerei ähnlich wie Wandern oder Biken bestens ins Konzept. Beiden schwebt die Vision eines exklusiven Fliegenfischereiangebots vor, das zahlungskräftige Fliegenfischerinnen und Fliegenfischer von überall auf dem Globus in die atemberaubende Bergwelt und die reichen, nachhaltigen Fischgründe des Engadins, seine Hotellerie und Gastronomie, locken soll. Schliesslich florierten ähnliche Projekte nicht nur in Österreich und Deutschland bestens. «In den Bahamas zum Beispiel schafft jeder einzelne ‘Bonefish’ Arbeitsplätze, Einkommen, Umsatz und einen volkswirtschaftlichen Wert von mehreren tausend Dollar.» Laut Vitalini könnte die Fliegenstrecke eine «Initialzündung» sein: «Würden wir das überall konsequent umsetzen, käme die ganze Welt zum Fischen ins Engadin.»

Zu früh für endgültiges Urteil

Marcel Michel, der Fischbiologe, ist da vorsichtiger. Natürlich habe «das Engadin eine Vorreiterrolle in Bezug auf nachhaltige Fischerei». Deshalb habe der Kanton «dem Testbetrieb einer Fliegenfischereistrecke auch mit Blick aufs Portefeuille von nachhaltigem Tourismus der Region zugestimmt». Aber die Laufzeit sei mit bislang drei Jahren zu kurz, die Strecke ebenfalls, die empirischen Daten noch zu lückenhaft und frühreif: «Das lässt zum jetzigen Zeitpunkt keine seriöse Aussage über Entwicklung des Fischbestands und den Erfolg der Pilotstrecke zu.»

Seitens Tourismusexperten tönt es ähnlich: Grundsätzlich sei «eine reine Fliegenfischerstrecke ein USP», der schweizweit genutzt werde, sagt Roger Kreienbühl, Mediensprecher von «Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair». Aber derweil eine leichte Zunahme von Fliegenfischern und Buchungen von lokalen Fly-Fishing-Guides beobachtet werden könne, seien noch keine konkreten Zahlen gemessen worden. Ob der Trend mehr als eine Eintagsfliege ist, wird sich weisen.

Ein Haken: Catch & Release

Und noch etwas gibt Anlass zu bedachtsamem Vorgehen: Fliegenfischen ist eine Paradedisziplin von «Catch & Release». Da eine Forelle die Fliege kaum verschluckt und insofern nur minimale Verletzungen erleidet, darf sie nach dem Fang («Catch») wieder ins Wasser – und Leben – zurück («Release»). Es ist nicht undenkbar, dass die Praxis Anteil am Erfolg der «Fly Only»-Strecke hat. Deswegen ist sie anderswo längst Standard.

Hierzulande hat Catch & Release allerdings einen Haken: Es steht im Widerspruch zur Tierschutzbestimmung der Bundesgesetzgebung. Catch & Release ist in der Schweiz illegal. Das könnte auch die Erfolgsaussichten von «Fly Only» trüben.

Nicht wenige Angler – und nicht nur Fliegenfischer – geben hinter vorgehaltener Hand zu, dass sie den einen oder anderen Fisch wieder schwimmen lassen. Die Chance, beim Gesetzesbruch erwischt zu werden, ist gering, die Beweislast für den Fischereiaufseher hoch. Auch gibt es juristische Schlupflöcher, etwa wenn Fischer ein übergeordnetes Interesse für das Überleben des Fisches zugunsten von Biodiversität oder Bestanderhaltung geltend machen. Bringt das den Engadiner «Fly Only»-Pilot in die Bredouille? Oder könnte dies gar zu einem Umdenken bezüglich der Gesetzgebung führen?

Derzeit sind solche Betrachtungen am Inn (noch) theoretischer Natur; in die juristischen Nesseln mögen sich weder die (Fliegen-)Fischer noch die Behörden setzen. Byron McGaw hält die Chancen dafür für gering. «Das ist der Elefant im Porzellanladen – alle haben Angst davor.» Und seitens Kanton sagt Marcel Michel zu Catch & Release sehr unzweideutig: «Dafür haben wir kein Verständnis.»

Vielleicht ist das gut so. Denn grundsätzlich gehen die Stakeholder der Engadiner Fischerei, Kanton, Verbände und Tourismus, einig: Die Fischerei im Engadin ist fester und wichtiger Bestandteil von Geschichte und Identität der Region. Damit es auch in Zukunft noch heisst «Bütscha la Ritscha!» (oder: Petri Heil, dem Grusswort und Fangwunsch von Fischern), sind nachhaltige Modelle wie «Fly Only» gefragt. Dafür sollten alle gemeinsam am selben Silch ziehen.

 
Text: Marc Neumann
Bild: Mayk Wendt
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