Was Brunnen erzählen

Das Unterengadin ist reich an Quellen und Brunnen. Einst waren die Brunnen das Zentrum des gesellschaftlichen und landwirtschaftlichen Lebens, heute dienen sie vor allem der Zierde.


Müssen die Brunnen entfernt werden? Diese provokative Frage ist der Titel eines Artikels im «Fögl Ladin» vom 9. Dezember 1986. Darin erläutert der Autor die hohen Kosten, welche durch die Trennung des Brunnenwassers vom Kanalisationssystem verursacht würden. Diese Trennung sei wiederum notwendig, um zu hohe Kosten für die Kläranlage zu vermeiden. In Sent befasste sich eine Kommission mit der Frage: Sollen gewisse Brunnen aus wirtschaftlichen Gründen entfernt werden? Solche, die fürs Ortsbild – «pel imbellimaint dal cumün da main importanza» – nicht so relevant wären? Der Autor kommt zum Schluss: «Auch wenn diese Brunnen heute nur zu einem kleinen Teil ihren ursprünglichen Zweck erfüllen, bedeuten sie dennoch einen Gewinn für die Lebens- und Wohnqualität der Anwohner.» Ausserdem sei ihre Bedeutung als Zeugen einer Zeit, in der sie «wahre Quellen» im Dorf waren, nicht von der Hand zu weisen.

Gesellschaftlicher Treffpunkt

Die Nutzung des Wassers ist so alt wie die Menschheit. Quellen wurden gefasst, Brunnen erstellt und rund um sie herum entstanden Wohnhäuser mit Ställen und Scheunen. Am Brunnen wurde das Vieh getränkt, die Wäsche gewaschen, Trinkwasser geholt; das Wasser wurde zu hygienischen Zwecken, zum Kochen oder als Löschwasser zum Schutz vor einer Feuersbrunst ins Haus getragen. Der Schriftsteller aus Scuol, Cla Biert (1920–1981), beschreibt in seiner Kurzgeschichte «Il cumün vantüraivel» eine Szene beim Brunnen am Dorfplatz: «Die Gassen beginnen mich anzusprechen, und auf dem von der Sonne beschienenen Dorfplatz singt der Brunnen das Lied, das mich von weither rief.» Die Stimmen des Brunnens laden den Erzähler ein, auf dem Brunnenrand zu sitzen, «zu lauschen, was die Häuser zu erzählen haben». Für die Menschen hatten Brunnen nicht nur eine existenzielle Bedeutung, sie waren auch Begegnungsorte. Am Brunnen wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Feste gefeiert, Bekanntmachungen verlesen, dort spielten die Kinder. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Wohnzimmerfenster der Engadiner Häuser meistens auf den Brunnen gerichtet sind. War dies aus architektonischen Gründen nicht möglich, wurde sogar ein Guckloch in die Mauer geschlagen, um von der «stüva» aus die Ereignisse am Dorfplatz mitverfolgen zu können. In Scuol ist nur noch eines dieser «Fernrohre» erhalten, und zwar am Haus Arquint zwischen den Dorfplätzen Plaz und Bügl Grond.

Klare Regelungen

Noch im späten Mittelalter floss das Wasser von der Quelle oder dem Bach in einen Trog aus einem Baumstamm oder in ein aus Holzbrettern gezimmertes Becken. In Ardez ist ein solcher Holzbrunnen noch gut erhalten. Mit dem Aufkommen der hölzernen Wasserleitun- gen wurde der Brunnenstock ermöglicht. Laut einem Artikel von Christian Walther in «Terra Grischuna» von 1986 sind solche «Teuchelleitungen» bereits seit Ende des 15. Jahrhunderts nachweisbar, die letzten Teuchel wurden allerdings erst im 20. Jahrhundert ersetzt. «Die Teuchelleitungen zu unterhalten, gehörte zu den Pflichten der Gemeinde oder der Brunnengenossenschaften, die vielerorts im Besitz der Quellen und Brunnen waren», schreibt Walther. Die Dörfer im Unterengadin waren in Brunnenquartiere eingeteilt, auf Romanisch «bavraduoiras» (Viehtränken). Die Besitzer der Häuser rund um die Brunnen mussten der Brunnengenossenschaft beitreten, es gab einen Brunnenchef – «capo bügl» – und eine Brunnenordnung, welche die Nutzung, Reinigung und Wartung der Brunnen regelte. Das Brunnenwesen ist in vielen Gemeinden auch schon sehr früh in den Gemeindestatuten verankert. Die erste Brunnenordnung von Sent beispielsweise stammt aus dem Jahr 1685. Im Artikel 53 der «Tschantamaints da cumün da Sent» steht: «Wer stark schmutzige Sachen im Brunnen wäscht, hat eine Strafe zu entrichten. Wer grundlos Brunnen leert, wird gebüsst. Zwei Stunden vor und zwei nach dem Mittag darf im Brunnen nicht gewaschen werden (weil das Vieh getränkt wurde, Anmerkung der Redaktion).»

112 Brunnen, drei Mitarbeiter

Heute ist in den meisten Ortschaften die Gemeinde für den Unterhalt und die Säuberung der Brunnen zuständig. Einige wenige Brunnengenossenschaften sind noch erhalten, zum Beispiel jene in Sparsels in Tarasp. Allerdings ist auch hier mittlerweile die Gemeinde für den Unterhalt zuständig. Der Blumenschmuck wird noch von der «corporaziun da bügl» organisiert. In der Fusionsgemeinde Scuol ist Johannes Studer als Brunnenmeister für alle sechs Fraktionen zuständig, wobei seine Aufgaben nur im entferntesten Sinne mit jener des «capo bügl» von einst zu vergleichen sind. «Ich bin dafür verantwortlich, dass das Trinkwasser von der Quelle bis ins Haus geliefert wird», erklärt er. Brunnen und Hydranten seien zwar die sichtbare Infrastruktur, 90 Prozent der Wasserversorgung befinde sich aber unter der Erde. Die Bedeutung der Brunnen sei dennoch nicht zu unterschätzen. «Es gibt eine gewisse Grundzirkulation in den Leitungen, die eine mikrobiologische Verkeimung im Netz verhindert.» 112 Brunnen gibt es auf dem Gemeindegebiet von Scuol. Drei Mitarbeiter sind dem Brunnenmeister unterstellt.

Das Wappen von Scuol ziert eine Brunnenschale mit vier Wasserstrahlen. Rund um Scuol gibt es 20 Mineralwasserquellen. An den Brunnen von Bagnera, Plazzetta, Bügl Grond und Plaz hat es jeweils zwei Brunnenröhren. Bei allen fliesst rechts Sauerwasser und links Süsswasser. Dieses Phänomen löst bei Gästen Verwunderung und bisweilen auch Entzücken aus. In allen Dörfern des Unterengadins haben die Brunnen im Zuge der Modernisierung ihre ursprüngliche Funktion als lebensspendende Quelle verloren. Sie verschönern das Dorfbild, sie sind auf eine Touristenattraktion reduziert worden. Ihre Berechtigung haben die Brunnen nach wie vor – als kulturhistorische Zeitzeugen und als Ort, wo man innehalten und frei nach Cla Biert «dem Brunnenlied lauschen» kann.

 
Text: Fadrina Hofmann
Bild: Fotostiftung Graubünden fotoGR.ch
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